Page 59 - Gehaltvoll 3.2
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ge|halt|volle Horizonterweiterung 3.2.




                         Wissen wollen, was hinter dem       haben wir vergessen, hatten die
                         Horizont  liegt,  nicht  nur  im    meisten Menschen auf dieser
                         Sichtbaren, auch in meinem          Welt keinen Glasspiegel.
                         Wissen, in meinen Erfahrungen,
                         in meinen Fertigkeiten.             Die ersten erhaltenen Glasspiegel
                         Der Reiz des Neuen, Entdecker-      stammen aus dem 2. Jahrhundert
                         ehrgeiz. Das Verborgene erkun-      nach Christus, wobei diese Exem-
                         den. Das  Versteckte aufspüren.     plare noch weit entfernt von der
                         Hinter dem Horizont meiner          Qualität heutiger Spiegel waren.
                         Begrenzungen. Horizonterwei-        Erst Ende des Mittelalters begann
                         terung ist erlaubte Neugierde.      eine Spiegelherstellung ähnlich
                                                             unserer Art und für die breite
                         Zum Abschluss einer ge|halt|voll    Masse ist es erst seit etwa 100 Jah-
                         Ausgabe laden wir wieder zu ei-     ren möglich, sich einen Spiegel zu
                         ner persönlichen Horizonterwei-     leisten.
                         terung ein:
                                                             Eine spannende Frage ist jetzt,
                         Ein Leben ohne Spiegel              wie ich mich erleben würde, was
                                                             ich von mir denken würde, wenn
                         Wir  besitzen  in  unserer  Woh-    ich nur wenige Teile von mir se-
                         nung mindestens vier Spiegel,       hen könnte, meine Hände, Bei-
                         ohne spiegelnde Glasscheiben        ne, das alles nur aus meiner Per-
                         oder kleinere Handspiegel zu        spektive, nie als Gesamtbild „von
                         berücksichtigen.                    außen“. Wenn ich also nur von
                         Die Folge ist, dass ich mich stän-  anderen wüsste, durch  Worte,
                         dig sehen kann, von vorne, von      wie ich ausschaue, und vielleicht
                         der Seite, ja sogar von hinten      ganz selten ein verzerrtes Abbild
                         (mit  Hilfe  von  zwei  Spiegeln),   von mir im Fischweiher oder im
                         manchmal nur im Vorbeigehen,        Parksee erspähen könnte.
                         manchmal direkt, wie am Mor-
                         gen beim Rasieren oder Käm-         (Denn einen Maler, der ein Por-
                         men.                                trait anfertigen könnte, kann ich
                         Das kennt jeder von uns.            mir, wie die meisten Menschen
                         Einmal besuchte ich ein Spie-       in früheren Jahrhunderten, auch
                         gelkabinett, da konnte ich mich     nicht leisten und die Photogra-
                         sogar unendlich mal sehen. Un-      phie ist ebenfalls noch nicht er-
                         endlich mal ich!                    funden.)
                         Worauf will ich hinaus?             Wer wären wir ohne Spiegel?
                         Wir alle haben eine „Spiegeli-      Wer wäre ich ohne Spiegel?
                         dentität“. Wir wissen, dank der
                         Spiegel, wie wir aussehen und       Herausforderung: Versuche doch
                         was uns daran gefällt oder nicht    mal einen Tag, ohne Spiegel aus-
                         gefällt.                            zukommen!
                         Doch Jahrhunderte lang, das











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