Page 62 - Gehaltvoll 3.2
P. 62
wie können wir einander verstehen?
wie kann ich dich, dein leben verstehen, dein lachen, deine fragen und du mich,
wenn die meisten stunden unserer lebenszeit uns selbst verborgen sind,
vergessen, versunken oder nur zweifelhaft ausgegraben, gelegentlich von
anderen, die diese jahre mit uns teilten,
und wir uns zufällig treffen am kaminfeuer, mit einem glas wein in der hand,
so wie ein kind überraschend im meeressand eine muschel findet
und ihrem rauschen an seinem ohr eine wundersame geschichte entlockt?
wie kann ich dich, dein leben verstehen, dein lachen, deine fragen und du mich,
wenn du zu einem buch doppelt solange brauchst wie ich
und dabei jedes wort dir andere fenster aufstößt als mir,
die träne, die du ab und zu unterdrückst, ich nie zu gesicht bekomme,
wie auch die großen augen nicht,
mit denen das kind in dir zwischen den zeilen in die ferne späht,
nach dem punkt am horizont,
auf den es sich lohnt, zuzurennen mit offenen armen?
wie kann ich dich, dein leben verstehen, dein lachen, deine fragen und du mich,
wenn wir nur bruchstücke unserer träume einander erzählen,
so wie man heute die trümmer antiker theater bestaunt,
ohne von der freude oder dem schrecken der zuschauer damals erfasst zu werden,
ihrem rufen, wenn sie nicht mehr still sitzen konnten,
bis der giftbecher gereicht ist?
wie können wir einander verstehen?
ja, wenn ich eine muschel sein könnte an deinem ohr,
wenn unsere punkte am horizont sich die hände reichten zum gemeinsamen tanz
und manche träume im erzählen ihre angst vertreiben
und sich wie eine uralte schriftrolle enträtseln.
(Werner May)
ge|halt|voll 3.2|2017
62