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Der ge|halt|volle Begriff: Sichere Unsicherheit
Die rechte Selbstsicherheit zu ge- zu der auch andere Menschen ge- und damit unsensibel für die mög-
winnen, ist eine lebenslange Aufga- hören, aber sie ist meine Welt) be- lichen Risiken einer Situation oder
be. schränkt. für die Gefühle eines anderen oder
Die Pubertät wirft uns ins Leben dass wir überhaupt die Begrenzt-
hinaus, heraus aus den vertrauten Getrieben von der Liebe Gottes, heit menschlichen Vermögens und
elterlichen Selbstverständlichkeiten. motiviert von der Sehnsucht nach Erkennens nicht angemessen ein-
So sollte es zumindest sein. Die ju- Gottes Reich und seiner Gerech- schätzen. Arroganz, Stolz, „Elefant
gendliche Unsicherheit („Wer bin tigkeit für alle Menschen, nicht im Porzellanladen“ oder falsche
ich?“) stellt sich drei Fragen: Wer mehr primär geleitet von meinen Selbstgerechtigkeit drohen. Dem
will ich sein? Wer kann ich sein? Interessen, Aufgaben oder Zielen, stimme ich zu. Deshalb gefällt mir
Wer soll ich sein? fange ich an, mich für Fremde, für der Begriff „Sichere Unsicherheit“.
Wenn es gut geht – es muss auf Ungewohntes, ja sogar eventuell für
keinen Fall 100%ig gelingen, also Feindliches, also für die Welten der Bestimmte Fähigkeiten traue ich
wenn es einigermaßen gut geht – anderen zu öffnen. mir durchaus zu. Aber dort, wo
werde ich mit den Jahren zu einer Dort will ich nicht Chef sein, die- ich etwas gut kann, verschieben
gewissen Selbstsicherheit gefunden se Welten zu meiner machen oder sich auch meine Qualitätsmaßstäbe
haben: Minderwertigkeitsgefühle dominieren. Dort will ich vor allem nach oben. So entsteht eine gewisse
sind selten geworden. Ich traue mir einfach nur da sein. (Außer man Unsicherheit, trotz Sicherheit. Und
etwas zu, kann mich aber auch an- gibt mir einen ganz bestimmten ich möchte auch offen sein für Her-
nehmen, wo ich etwas nicht kann Auftrag.) Kein passives Dasein, son- ausforderungen, die fremd und neu
oder habe. Auch mit anderen Men- dern ein aktives: Dasein, verstehen für mich sind, wo ich noch keine
schen kann ich ganz gut umgehen, wollen, sichern mit meiner Selbst- Erfahrungen habe:
wenn auch nicht mit allen. Auch sicherheit, mit meiner Verbunden- Meine Beziehungsfähigkeit lässt
gibt es einige dauerhafte Beziehun- heit mit Gott. Die Überzeugung mich in der Regel nicht unsicher
gen in meinem Leben außerhalb ist gewachsen, dass das das Beste ist, sein, aber ich möchte mich nicht
meiner Herkunftsfamilie. was ich tun kann. nur auf sicherem Terrain bewegen,
Im Großen und Ganzen weiß ich Und jetzt kann diese neue Selbstsi- auch z.B. offen für Gespräche mit
mich als „Chef im eigenen Betrieb“. cherheit entstehen: Die sichere Un- Obdachlosen sein, womit ich kei-
Und wenn es mal stürmt, finde ich sicherheit! nerlei Erfahrungen habe.
(manchmal auch mithilfe anderer)
wieder zur Ordnung zurück. Diese sichere Unsicherheit ist nicht Ich sehne mich nach einer vorsichti-
durch Misstrauen und Angst ge- gen Selbstsicherheit, besser nach ei-
Aber diese Selbstsicherheit bleibt prägt, Attribute, die normalerweise ner sicheren Unsicherheit, die Gott
nicht das ganze Leben so, bzw. sie zu einem unsicheren Leben gerech- in meinem Herzen ehrt und die sich
soll nicht so bleiben, es gibt noch net werden, aber sie trifft Entschei- bewusst ist, dass all unsere Erkennt-
einen geistlichen Reifungsschritt, dungen oder ermutigt zu Entschei- nis (auch über uns selbst) wichtig
würde ich wagen zu behaupten: Die dungen unter unsicherem Ausgang, ist, aber doch Stückwerk bleibt.
sichere Unsicherheit. besser mit offenem Ausgang. Das
Die Sicherheit, die ich bisher gefun- schafft die Unsicherheit.
den habe – und die wirklich etwas
sehr Wertvolles darstellt – war bis- Von Kritikern der Selbstsicherheit
her auf meine eigene kleine Welt wird immer wieder betont, dass
(die durchaus recht groß sein kann, wir zu selbstsicher sein könnten
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